Thomas Brandt

Steppe im Herzen

Hellblau waren die Häuser der Deutschen in dem kleinen Dorf in der kasachischen Steppe, in dem Irina und Marina Fabrizius aufwuchsen. Jede Familie versorgte sich selbst, hatte ein paar Tiere und baute Verschiedenes an. Wie ein Fußballfeld so groß schien ihnen der eigene Garten, langgezogen in die Steppe hinein, den Vater und Mutter nach ihrem Feierabend versorgten. Dass Kuh, Schweine, Hühner und Enten gefüttert werden mussten, geriet zum Glück für die beiden Mädchen. Damit sie die Mutter bei ihrer Arbeit nicht störten, suchte sie nach einer Beschäftigung für die Kleinen, die dauerhaft interessant sei. Und fand sie in Buntstiften und einigen Bogen des damals recht raren Papiers. 

Als wenn sie dadurch eine zuvor unsichtbare Quelle geöffnet hätte, begann ein Strom von Bildern zu fließen. Führte sie zu Anfang noch die Hände der Mädchen, um ihnen zu zeigen, wie ein Kreis entsteht, so beschränkte sich die Mutter bald darauf, die fertigen Bilder zu betrachten und zu berichten, was sie darauf entdecken konnte, Blumen, Wolken, Bäume und oft die Sonne. Immer mehr Papier und Farben verlangten die Mädchen, ließen sich vom Strom ihrer Phantasie und Beobachtungsgabe treiben. Es war ein herrliches Spiel. 

Vor allem war es die Natur, die ihnen Anregung vermittelte, die bunte Blumenpracht im Garten der Mutter, der Wind, der über die Ebene strich und das Grasmeer in Wellen legte, oder die Sonnenuntergänge mit ihren glühenden Farben am weiten Himmel über dem flachen Horizont. Schließlich waren sie ihren Altersgenossen weit voraus, die noch Kopffüßler zeichneten, während sie das Beobachtete längst detailgenau darstellten. Sie fühlten sich stark und sicher. Niemand gab ihnen das Gefühl, dass ihre enge Zusammenarbeit problematisch sein könnte, niemand versuchte aus ihnen unterschiedliche Menschen zu machen. Nie waren sie getrennt. 

In ihrem neunten Lebensjahr endete die herrliche Zeit in Kasachstan. Ihre Familie nutzte das Angebot, nach Deutschland auszusiedeln. So kamen Irina und Marina Fabrizius ins schwäbische Mengen. Waren sie in Russland als Deutsche Außenseiter, so waren sie es jetzt als Russen in Deutschland. Dass sie sich identisch anzogen und kein Bedürfnis verspürten, sich voneinander zu unterscheiden, stieß bei den anderen Kindern auf Misstrauen. „Zwilling“ war das erste Wort, das sie deshalb lernten. Ihre Antworten, die sich glichen, ließ man nicht gelten. So beschlossen sie, Anderen eine Unterschiedlichkeit vorzuspielen, die es nicht gab. 

Es folgte eine Flucht in die Bilder. Um sich ihrer vertrauten Nähe zu vergewissern, malten sie mehr als je zuvor, immer nebeneinander, Sonnenuntergänge, Wiesen übervoll der schönsten Blumen und die weite Landschaft der Steppe. Und sie schafften es, sich in die Herzen der Kinder zu malen, denn absolut präzis konnten sie aus dem Kopf populäre Comicfiguren nachzeichnen. Schließlich wurden sie in ihrer Art angenommen und verstanden. 

Die Filz- und Buntstifte aus Kasachstan hatten sie längst hinter sich gelassen, entdeckten im reichhaltigen Sortiment der deutschen Schreibwarenläden immer neues Material, mit dem sie experimentierten. Fragte ein Erwachsener sie, was sie werden wollten, gaben sie zur Antwort: „Wir wollen malen!“ Natürlich fiel auch den Lehrern diese besondere Begabung auf, bis man dem Vater der beiden Mädchen das Versprechen abnahm, alles zur Förderung ihrer künstlerischen Fähigkeiten zu tun. 

Das Wort „Kunst“ begegnete ihnen aber erst, als sie hörten, Malerei sei eine „brotlose Kunst“. Statt der Warnung zu folgen, begannen Irina und Marina intensiv zu suchen, was es denn auf sich habe mit dieser „Kunst“. Schließlich fanden sie ein Buch, in dem alle künstlerischen Ausbildungs-Stätten verzeichnet waren. Sie entschieden sich für die private Kunstakademie in Nürtingen, nah genug für einen ersten Schritt fort von zuhause und wurden dort auch angenommen. 

Ihr dortiger Dozent Armin Bremicker fragte sie bei einem fotografisch genau gemalten Baumbild, was wäre, wenn darin ein Ast fehlen würde. „Dann wäre es nicht der Baum“, erhielt er als Antwort. Und wenn, fragte er weiter, man ein vergrößertes Foto statt der Malerei an die Wand hängen würde. „Dann würde die Stimmung im Bild fehlen“, war den beiden Malerinnen klar. So sicher sie sich bereits waren, so lernten Irina und Marina Fabrizius durch viele kritische Gespräche einen neuen Zugang zur Malerei kennen. 

Bisher war Malen für sie Normalität wie Essen und Schlafen. „Kunst“ aber schien eine Sprache mit eigenen Regeln zu sein. Was richtig in der sichtbaren Wirklichkeit war, musste nicht unbedingt richtig im Bild sein. 

Bald lernten sie den Umgang mit Ölfarben kennen, die ihnen neue Ausdrucksmöglichkeiten boten. Fasziniert waren sie von einer Malerei, die sich an der Präzision von Fotografien orientierte. Mit unerschöpflicher Disziplin und Fleiß versuchten sie, dem fotografischen Bild genau zu entsprechen. 

Bevor sie ihre Studienzeit in Nürtingen abschließen konnten, hörten sie von der Düsseldorfer Akademie als einem Mekka der Kunst. Sofort fuhren sie durch Deutschland, besuchten Akademien in München, Dresden und Hamburg. Als sie schließlich das Gebäude der Düsseldorfer Akademie sahen, waren sie sofort begeistert - und hatten Glück, zusammen dort aufgenommen zu werden. Ihr dortiger Professor Udo Dziersk stellte eine ihrer Darstellungen von Astwerk einfach auf den Kopf. Das sei nicht richtig, antworteten sie empört. So herum seien die Äste nicht gewachsen. Was kümmere den Betrachter die Äste, die zum Bild angeregt hätten, entgegnete Dziersk. Wichtiger sei doch, ob das Bild als Bild richtig sei. Von Gespräch zu Gespräch veränderte sich das Bewusstsein der jungen Malerinnen. Naturalistische Darstellungsweise verschmolz immer mehr mit surrealen Elementen. Z.B. brach aus einem Felsen ein Lichtstrahl hervor. 

Nach einem Jahr wechselten sie über in die Klasse von Professor Herbert Brandl. Ausführlich erläuterte ihm Marina ein Gemälde, auf dem Wind über eine Wiese strich, um sich in einem hohlen Baumstamm zu fangen. Lange hatte sie dazu die Lichtbrechung auf Gräsern studiert, um diese möglichst realitätsnah darstellen zu können. Von Zeit, Zerstörung und vom Glaube sprach sie dann. Das aber sehe er nicht, antwortete Brandl. Es sei für ihn ein gelungenes Windbild, in dem er den Wind sehen und fasst spüren könne. Wie sie denn von Inhalten sprechen könne, die man nicht sehe, wollte er wissen. Erst tat es weh, dann wuchs die Erkenntnis, dass Literarisches nichts in Ihrer Malerei zu suchen hätte. 

Von Kindheit an hatten die Schwestern alles miteinander geplant, besprochen und gemalt, aber immer auf eigenen Flächen. Die überraschende Lösung eines Darstellungsproblem war es, die beide Malerinnen noch enger zusammenführte. Im Schnee stehende, umgedrehte Bäume hatte Irina gemalt, mit brennenden Wurzeln im Gegenlicht einer tiefstehenden Sonne. Ein Schatten wollte ihr jedoch, wie häufig schon, trotz ausführlichen Rats der Schwester nicht gelingen. Aus Verzweiflung bat sie sie schließlich, den Schatten für sie zu malen. Und Marina malte ihn genau so, wie Irina es sich vorgestellt hatte. Wäre es dann nicht sinnvoller, sie würden gemeinsam Bilder malen? Dann könnte eine Malerin die Schwächen der anderen ausgleichen. Sie versuchten es und sind dabei geblieben. 

Bald entdeckten sie für sich die Lasurmalerei, die sie Stück um Stück verbesserten, bis ihre Resultate nur noch mit vier Händen und zwei Köpfen durchführbar waren. Gefunden hatten sie das, was ihrem Bedürfnis nach Präzision und Planbarkeit bei gleichzeitiger emotionaler Tiefe entsprach. Innerhalb eines Jahres verschwand das Erzählerische aus ihren Bildern, die flächiger und abstrakter wurden. Licht wurde immer mehr zum Hauptmotiv und -thema, Licht, das aus endloser Tiefe kommt, Atmosphäre und damit Stimmungen erzeugt - Lichtkreise, Lichtlinien. Die Vielschichtigkeit des Farbaufbaus im Bild durchbricht die eigentliche Flächigkeit der Farbe, erzeugt eine unauslotbare Tiefe. Der Betrachter wird vom Licht geradezu gefesselt und in die Tiefe des Bildes hineingezogen. 

Verwandelt hat sich die Erinnerung an die Landschaft der Kindheit in eigenständige Malerei. Die Bilder von Irina und Marina Fabrizius verweisen nicht mehr auf die Sonne als natürliche Lichtquelle, sondern bergen ein innerbildliches Licht, dessen Energie sich ganz aus Malerei speist. Es ist die Kraft der Kunst, die uns erfüllt, wenn wir diesen Bildern gegenüberstehen, uns von ihrem Licht erfüllen, in Stimmungen versetzen und von ihm stärken lassen. 

Thomas Brandt