Thomas Hirsch

Das Licht der Farben

Die Düsseldorfer Malerinnen Irina und Marina Fabrizius

Thomas Hirsch


In Zeiten der Pandemie, in denen die meisten Ausstellungen abgesagt werden müssen, liegt es schon etwas zurück, dass Bilder von Irina und Marina Fabrizius öffentlich zu sehen waren. Immerhin, Mitte November waren einige ihrer jüngsten Gemälde auf der Kunstmesse in Amsterdam ausgestellt. Inmitten der vielen Kunst auf den langen Fluchten zogen sie schon aus der Ferne alle Blicke auf sich: auf ihre leuchtende Farbigkeit mit den horizontalen, tonal gestuften Bahnen oder mit elementaren Formen, zentriert im großen quadratischen Format.

Eine der Sensationen dieser Bilder, die die Zwillinge stets gemeinsam malen,  ist neben den koloristischen Nuancen ihr Licht. Die Titel der Gemälde teilen mit, was zu sehen ist. So zeigt „Kreis Scharlach Rot“ (2021) ein weites Spektrum des Rot, vom Dunkel hin zum Orange und wieder ins Dunkel zurück in kreisrunden Ringen, die ausgehend vom Mittelpunkt der Bildfläche umeinander liegen. Während das dunkle Rot im Zentrum einen tiefen fernen Raum beschreibt, schwebt der quasi auf halber Strecke angeordnete hellste und dabei schmalste Ring geradezu vor der Fläche. Er strahlt mit seiner Helligkeit auf die benachbarten Farbtöne aus und bewirkt die tiefenräumliche Stimulanz ihrer Anlage. Wenn man dann näher an das Gemälde herantritt, erkennt man, wie viele Stufungen hier zusammenwirken, wie sie sich abgrenzen und leicht überschneiden. Plötzlich ist nichts mehr stabil, die Farben wirken erhitzt, mischen sich und ergeben ein Schauspiel, das aufflammt und an anderer Stelle abkühlt. Das Rot bricht hervor, zieht den Betrachter in seinen Sog und umfängt ihn regelrecht.

„Quadrat im Blau“ (2021) dagegen vermittelt Gelassenheit und Systematik. Hier sind Quadrate stufig, zentralperspektivisch als Schacht ineinander gesetzt. Der dünnste und zugleich hellste Streifen leitet den Sog in die Bildtiefe ein, zugleich spiegeln sich an dieser Linie die verschiedenen Blautöne und definieren so ein Außen- und Innenfeld. Die Farben wirken als transparentes, von Licht erfülltes Volumen, wobei nun erst recht die Dimensionen relativ werden und die Binnenquadrate unfassbar wirken. Alles wirkt so einfach und ist doch so komplex. Es ist ein Abenteuer des vorstellenden, begreifenden Sehens.

Die Sicht aus der Ferne und die Annäherung in der körperlichen Bewegung tragen zur Wahrnehmung und zum „Begreifen“ der Gemälde bei. Sie verdeutlichen, wie sorgfältig und fein sie gemalt sind, was ihre Qualitäten und ihre Einzigartigkeit ausmacht. Wie sehr sie den Dialog mit dem Betrachter suchen und sich dabei über dessen Körperlichkeit und seine Aufmerksamkeit definieren und wie meditativ, ja spirituell und introvertiert sie bei all dem sind: Das war die Attraktion, die es in den vergangenen Jahren auf den Kunstmessen in Amsterdam, Karlsruhe oder Kuala Lumpur zu sehen gab. Die Leinwände der Fabrizius-Zwillinge lockten den Betrachter an, aber je näher man ihnen kam, desto mehr entzogen sie sich. Empfunden als eine Quintessenz des Sehens, stellt sich augenblicklich die Frage nach der Wirklichkeit dieser Formen und Farben, wenn wir sie als Ausschnitte der Welt verstehen, und dem Reichtum ihrer Töne, die in ein Dunkel oder in ein Kontinuum aus Licht eingebettet sind. Die Verknappung der Formen, dessen elementare Konzentriertheit, geht mit Opulenz und sinnlicher Pracht einher.

Dazu trägt das große Leinwand-Format bei, das einen weiten, nach allen Seiten fortsetzbaren Landschaftsraum, den Himmel oder die Meeresoberfläche repräsentieren könnte und irgendwie auch ganz unmittelbar wiedergibt. Die landschaftliche Referenz steigert sich bei den querformatigen, in der Horizontalen streifig angelegten Bildern. Aber das gilt auch für die Hochformate. Ein neueres davon heißt „Strich Orange im Rot“ (2021): Die landschaftlichen Assoziationen stellen sich ein, indem das Bild unten mit einem „erdigen“ Braun einsetzt, welches sich dann zum Rot hin verschiebt und sukzessive aufhellt bis zu einer schmalen orangefarbenen Linie im unteren Drittel des Bildes, die dem licht nebeligen Farbgeschehen Halt gibt. Weiter führt dies, hervorgehend aus den rötlichen Tönen, zu einem stumpfen Blau, das sich im oberen Bereich ausdehnt. Die orange Linie aber wirkt wie eine Wahrnehmung im Gegenlicht, welches blendet und so alles Geschehen unscharf und abgetönt auftreten lässt. Zugleich ist diese Farbbahn rein als Struktur zu verstehen, die sich in ihrer scharfkantigen Präzision im Vordergrund aufrichtet und alles weitere farbliche Geschehen auf räumlichen Abstand hält. Mit unserer differenzierenden Wahrnehmung erwachen die Bilder zum Leben, indem sie über die Illustrierung natürlicher Phänomene hinausgehen.

Dabei bleibt das Konzept von Irina und Marina Fabrizius für Verschiebungen, Änderungen offen. Der Rückzug ins Atelier in der Pandemie hat zu einem verstärkten Experimentieren geführt. Die Zwillinge malen nun auch mit reinen Farben. Neben den monumental wirkenden, 2 m großen Gemälden entstehen nach vielen Jahren wieder kleinere Formate. „Die letzte Woche war richtig anstrengend, wir haben am Montag noch bei zwei Bildern Lasuren gelegt und dann kam schon der Aufbau auf der Messe“, schreibt Irina später in einer SMS, direkt nach der Eröffnung der Kunstmesse in Amsterdam. - Das ist ein bisschen die Crux, auch für die Malerinnen selbst: Selbst kurz vor der Fertigstellung der Bilder ist noch nicht viel im Atelier in Düsseldorf-Reisholz zu sehen. Die letzte Schicht ändert noch einmal alles, die Bilder in ihrer Farbigkeit gibt es zuvor nur in den Köpfen der Zwillinge. Das Weiß der grundierten Leinwand ist die Lichtquelle, die alle Farben beeinflusst, aber erst die Vielzahl der Farbschichten, die darüber, mit Aussparungen mittels Abklebungen, gelegt sind, entwerfen die Töne, ihre Abstufungen und die Räumlichkeit. Der malerische Auftrag erfolgt in Lasuren vom Hellen ins Dunkle. Jede Schicht muss erst trocknen, ehe es mit dem Bild weitergehen kann. Und die nasse Farbe muss schnell und gleichmäßig aufgetragen werden, das geht bei den großen Formaten nur, indem die Zwillinge nebeneinander an dem Bild malen. Voraussetzung für all das aber sind das blinde Verständnis untereinander und die gleiche malerische Handschrift – also da ist nichts, was an einen Assistenten delegiert werden könnte: Der Duktus der beiden muss identisch aneinander anschließen.

Irina und Marina Fabrizius wurden 1981 in Kustanai in Kasachstan geboren. Dort sind sie auf dem Land – und mit dem Blick über die weite Landschaft – aufgewachsen. Sie berichten vom gemeinsamen (aber da noch getrennten) Malen als Kinder und von den prägenden Naturerfahrungen, die sie gelehrt haben, genau hinzusehen, den Wechsel des Lichts am Himmel zu studieren und ein Gefühl für die Farbigkeit und die Helligkeit, ihre Transparenz und dreidimensionale Tiefe zu entwickeln. 1990 wandert die Familie nach Deutschland aus und lässt sich im Württembergischen nieder. Die Zwillingsschwestern professionalisieren ihre Überzeugung für die Malerei, ab 2000 besuchen sie die Freie Kunstakademie in Nürtingen. 2006 wechseln sie an die Kunstakademie Düsseldorf, die über Deutschland hinaus einen vorzüglichen Ruf besitzt und an der Farbmaler wie Gotthard Graubner, Ulrich Erben, Helmut Federle oder Katharina Grosse gelehrt haben. Und schließlich haben von Düsseldorf aus die Magier des Lichtes, die ZERO-Künstler die Welt erobert. Um all das geht es Irina und Marina Fabrizius zunächst gar nicht. Sie studieren in der Klasse von Herbert Brandl und beginnen bei ihm mit realistischer Malerei.

Ihr erstes gemeinsames Bild entsteht während dieser Jahre. Es ist eigentlich ein spontaner Rettungsversuch: Weil die eine an einem Bild nicht weiter weiß und es aufgeben will, malt es die andere zu Ende. Mit dieser Erfahrung im Rücken und im gegenseitigen Vertrauen beginnen die Schwestern, ihre Malereien gemeinsam zu konzipieren und zunächst mit getrennten Bildbereichen umzusetzen, die von jeweils nur einer gemalt werden. So entstehen filigran realistische Naturstudien mit einer flirrenden Vegetation in einer mitunter surreal aufgeladenen Atmosphäre. Andere Bilder zeigen eine Feuersbrunst, die einen Wagen erfasst hat, oder das Sonnenlicht unter Wasser auf blauen, mit ihren Fugen verschwimmenden Kacheln. Schon da widmen sich die Schwestern den Elementen der Natur, die sich der Erfassung entziehen und als Substanz nicht zu fixieren sind – und im übrigen aus Helligkeit bestehen.

Mit der Hinwendung zur Lasurmalerei führt dies ab 2010 zu einer bis zur Abstraktion verknappten Farbmalerei, die in den ersten Jahren ganz unmittelbar von der naturbelassenen oder gestalteten Landschaft ausgeht. Die Flächen stoßen als präzise, sogar geometrisch gezogene Farbpartien aufeinander. Die Titel lauten: „Landschaft See“, „Mond“, „Wald Türkis“ oder „Nebel Landschaft“. Bis heute halten die beiden fest, was eigentlich nicht zu fixieren ist, im besonderen so grandiose Naturphänomene wie den Sonnenuntergang. Manchmal helfen Fotos bei der Erinnerung. Wichtiger aber ist die Gedächtnisleistung mit dem untrüglichen Gespür für Farben, das die Zwillingsschwestern gemeinsam haben. Bei einer eigenen Werkgruppe blitzt eine zentrierte Scheibe durch eine diffus behandelte, verhangene Oberfläche. Auch diese Bilder bleiben als Ableitungen aus der Natur begreifbar – als Sonne oder Mond. Die Weite der Landschaft, die Farben des Himmels bilden den ersten Ansatz für die Künstlerinnen als unbegreifliches räumliches Erlebnis, das von subjektivem Empfinden geprägt ist und nie über fixe trennende Linien verfügt. Von daher lassen sich diese Bilder, die im Laufe der Jahre farblich immer reicher, nuancierter und zugleich formal immer reduzierter geworden sind, niemals dem Konstruktivismus zurechnen. Auch dort wo die Kanten mittels Abklebungen gezogen sind, überstrahlen die Randzonen die umgebenden Farbtöne weich. Die Farben scheinen über der Fläche zu schweben. Das Erhabene im lichterfüllten Innenraum einer Kathedrale kommt einem in den Sinn, wie es bei Künstlern wie James Turrell und Robert Irwin nachempfunden und erzeugt ist. Und doch verlassen Irina und Marina Fabrizius nicht die Leinwandfläche – das haben sie, hierzulande, etwa mit Rupprecht Geiger und Lothar Quinte gemeinsam – und was sie verwirklichen, ist Tafelmalerei, ausgehend vom Gesehenen und Transzendierten. Als gegenwärtige Erfahrung malen sie Bilder mit Farbgeschehnissen, die man sich gerade nicht merken kann, die man unmittelbar erleben muss. Sie finden Farbtöne, welche man hier zum ersten Mal zu sehen meint: als Statement auch dafür, wie reich und unbegreiflich Licht auftritt und im übrigen eine Grundlage unseres Lebens ist.


(erstveröffentlicht in: boesner Kunstportal, März 2022: www.boesner.com)